Enrichment

Beispiele für innere Differenzierung

 

Anderen Kindern helfen

Da hochbegabte Kinder ihre Arbeitsaufträge häufig schneller als die übrigen Kinder erledigt haben, haben sie Zeit, anderen zu helfen. Wenn zum Beispiel in meinem Englischunterricht die ersten Kinder eine fertige Aufgabe vorgezeigt hatten und ich sie korrigiert hatte, wurden sie in dem Moment zu ‚assistant teachers‘ und halfen anderen, korrigierten auch deren Aufgaben. Die Gruppe derjenigen, die das kann, ist wesentlich größer als die der 2% Hochbegabten. Was nicht gut ist: Wenn von Hochbegabten selbstverständlich erwartet wird, dass sie anderen helfen, ohne dass sie selber Unterstützung, Hilfe und Raum für eigene Ideen bekommen, Tenor „Du hast das Lernziel erreicht, du brauchst nichts zusätzlich.“ Innere Differenzierung für Hochbegabte muss über das vorgeschriebene Lernziel hinausgehen. Es darf sich nicht nur um Aufgaben handeln, die die Kinder ruhig stellen, damit sie nicht stören.

Manche Kinder können sehr gut helfen und erklären, andere weniger. Das hat nichts mit Intelligenz zu tun.

 

Arbeitsblätter für die Klasse anfertigen

Auch wenn sie selber in ihrer Entwicklung weiter sind als die MitschülerInnen, müssen sie sich in sie hineindenken und Aufgaben stellen, die deren Lernvermögen angemessen sind. Beispiel: Ein Drittklässler entwickelte für seine MitschülerInnen ein Arbeitsblatt zum Sachkundethema ‚Emsland‘; es gab Aufgaben und auch den entsprechenden Antwortbogen zur Selbstkontrolle. Das ist in allen Fächern und Jahrgängen möglich: in Fremdsprachen Vokabeltests und andere Aufgaben anfertigen, Matheaufgaben, Übungen zur deutschen Rechtschreibung ….. Die Möglichkeiten sind unendlich.

 

Vorbereitung auf einen Wettbewerb

Es gibt zahlreiche Wettbewerbe, lokale und überregionale. Freie Zeit kann genutzt werden, um dafür Ideen zu entwickeln, zu zeichnen, zu schreiben, zu recherchieren. Es reicht nicht aus, in der Schule Plakate aufzuhängen und Informationsmaterial auszulegen und zu hoffen, dass die Kinder sie wahrnehmen und sich selbstständig kümmern. Kinder und Jugendliche müssen von Lehrkräften der entsprechenden Fächer konkret angesprochen werden: „Ich traue dir das zu, probiere es mal.“, und zumindest moralisch unterstützt werden, wenn die Lehrkraft keine Zeit hat, die Vorbereitungen auf den Wettbewerb zu begleiten. Vielleicht könnte eine Mentorin oder ein Mentor außerhalb der Schule gefunden werden. Das trifft auch zu, wenn die Vorbereitung auf und Beteiligung an einem Wettbewerb ausschließlich außerhalb des Unterrichts stattfindet.

 

Andere Aktivitäten im Unterricht

Als Englischlehrerin hatte ich im Laufe der Jahre sehr viele Bücher gesammelt, die über den normalen Unterricht hianusgingen. Eine Quelle waren Lektüren, die nicht mehr gebraucht wurden. Eine weitere Quelle waren ‚second hand bookshops‘ in England, insbesondere die von Oxfam. Eine dritte Quelle: englische (französische, spanische, …) Museumsläden, die fast immer ausge-zeichnetes Material für Kinder haben. Manches habe ich angeschafft, weil ich es selber spannend fand. Die Begabtesten (unabhängig von Noten oder IQ) durften sich Bücher nehmen und sie auch im Unterricht lesen, die anderen durften sie ausleihen und mit nach Hause nehmen. Sie konnten die Bücher einfach nur zum Vergnügen lesen, eine Zusammenfassung für die Klasse schreiben, eine Geschichte weitererzählen, eine eigene Geschichte schreiben, ……
Wenn ich im Englischunterricht schnell und leicht lernenden Kindern Zeit für eigene Aktivitäten gab, bestand ich darauf, dass es etwas mit Englisch zu tun hatte, dass sie nicht schon die Mathe-Hausaufgaben machten. Wenn ein Kind z.B. etwas für einen Wettbewerb vorbereitete, der nichts mit Englisch zu tun hatte, hätte ich sie eher eine Stunde vom Unterricht befreit und sie es im Rahmen der äußeren Differenzierung machen lassen. Das darf selbstverständlich anders gehandhabt werden.

 

Individueller Lehrplan

Es gibt die Möglichkeit, für eine einzelne Schülerin, für einen einzelnen Schüler einen individuellen Lehrplan zu erstellen. Das bedeutet neben der Planung die Bereitschaft der betroffenen Lehrkräfte, ein Kind ‚loszulassen‘, für das Kind aber auch ein hohes Maß an Selbstständigkeit: Zum Teil arbeitet es selbstständig an eigenen Aufgaben, zum Teil nimmt es am Unterricht einer höheren Klasse teil.

In kleinem Maße wird das öfter umgesetzt, wenn z.B. Klassen in der Sekundarstufe im Unterricht für die zweite Fremdsprache aufgeteilt werden. Hochbegabte können beide Fremdsprachen gleichzeitig lernen, zwei Stunden pro Sprache reichen für sie aus. (Zwei Fremdsprachen parallel lernen)
 
Terence Tao, ein extrem begabter australischer Junge, bekam mit 6 Jahren und 6 Monaten Unterricht in vier verschiedenen Jahrgängen: in der 3., 4., 6. und 7. Klasse. Sein stärkstes Fach war Mathematik – er gewann mit 13 Jahren die Goldmedaille in der internationalen Mathematik-Olympiade –, dort war er in der 7. Klasse. Da er biologisch 6 ½ war, war er in Sport und ähnlichen Fächern jahrgangsgerecht eingeschult.

 

Probleme bei innerer Differenzierung

 

Manche Lehrkräfte machen das ausgezeichnet. Allerdings kann es sie vor immense Probleme stellen, wenn in einer Klasse einerseits Schülerinnen und Schüler mit einer schweren körperlichen oder geistigen Behinderung oder mit großen sozialen Problemen sind und deshalb einen sehr hohen extremen zusätzlichen Betreuungsbedarf haben, andererseits hoch bzw. höchst Begabte. Was in dem Fall von Lehrkräften gefordert wird, ist die Quadratur des pädagogischen Kreises. Auch wenn ich wie viele Lehrkräfte Inklusion aus moralischen und pädagogischen Gründen befürworte, bleiben Probleme bei der Umsetzung. Welche Ressourcen ‒ vor allem Personal, aber auch Räume ‒ muss der Staat zur Verfügung stellen, damit alle Bedürfnisse der Kinder in einer Klasse befriedigt werden können?
 
Erfahrungen von Eltern hochbegabter Kinder zeigen, dass zwar Lehrkräfte bereit sind, diese Kinder mit angemessenen, herausfordernden Aufgaben zu versorgen, dass es aber im Schulalltag wegen der vielen Verpflichtungen zu selten stattfindet, inhaltlich nicht genügt oder zu oft ganz unterbleibt (Heinbokel 2008). Wenn Lehrkräfte ungeschickt sind, können Sonderaufgaben für ein hochbegabtes Kind auch als Ausgrenzung erlebt und deshalb abgelehnt werden. Wenn der Staat ein qualitativ hochwertiges Enrichment für Hochbegabte will, kann das nicht nur wohlmeinenden Lehrkräften überlassen werden. Es braucht Zeit und bzw. oder kostet Geld (Endepohls-Ulpe 2011)
 
Schwierigkeiten sollten Lehrkräfte keineswegs entmutigen oder hindern, Hochbegabte mit Aufgaben zu versorgen. Wenn die Kinder oder Jugendlichen gelernt haben, selbstständig zu handeln, können sie auch selber Ideen entwickeln, was sie mit der ‚zu viel Zeit‘ anfangen. Dann muss die Lehrkraft nur zulassen und aushalten, dass jemand sich im Unterricht mit anderem beschäftigt.
 
Eine Schülerin hatte von einem naturwissenschaftlichen auf ein musisch orientiertes Gymnasium gewechselt und war damit ihren MitschülerInnen in den naturwissenschaftlichen Fächern weit voraus. Sie durfte im Mathematikunterricht andere naturwissenschaftliche Bücher lesen unter der Voraussetzung, dass sie gleichzeitig dem Unterricht folgte und sich mündlich beteiligte, auch jederzeit aufgerufen werden konnte. Hochbegabte Kinder können das! Hin und wieder nahm sich der Lehrer Zeit, über das Gelesene mit ihr zu reden.

 

In einem Internetforum für Eltern Hochbegabter berichtete eine Mutter, ihr Sohn sei an seinem Gymnasium von allen naturwissenschaftlichen Fächern befreit. Das bedeutete konkret, dass er in jedem Fach an einer Stunde teilnahm und alle Klassenarbeiten mitschrieb. In der Stunde, in der er anwesend war, beteiligte er sich mündlich so intensiv, dass seine Lehrer wussten: Er beherrscht den Stoff. Auf die Frage ‚Was sagen denn die andern in der Klasse dazu?‘ hieß es locker: ‚Solange wir das nicht auch müssen, ist uns das egal.‘ In der frei gewordenen Zeit löste er Aufgaben der Fernuniversität Hagen, an der SchülerInnen auch schon ohne Abitur studieren dürfen.
 
Endepohls-Ulpe, Martina (2011). Early Placement at the University – the Parents’ Perspective, in: ECHA News vol. 25, no 1
Heinbokel, Annette (2008). Practitioners' Opinions on Enrichment and Acceleration, in: ECHA News, vol. 22, no. 2, p. 26-29

Kontakt

Institut für Enrichment & Akzeleration
Dr. Annette Heinbokel, Dipl. Päd.

Bismarckstr. 100
28203 Bremen

Telefon 0421 988 830 93
IEuA@swbmail.de
www.IEuA.de

Sprechstunde:
nach Vereinbarung

Bücher

Annette Heinbokel (2. Auflage 2012)
Handbuch Akzeleration – Was Hochbegabten nützt, LIT Verlag, Münster
ISBN 978-3-643-10245-4

 

 

Annette Heinbokel (1. Auflage 2016)
Eine Klasse überspringen – sonst wäre ich fipsig geworden, LIT Verlag, Münster
ISBN 978-3-643-13147-8